»Den Kulturwissenschaftler interessiert „Nachtleben“ als kulturelle Praxis…«
stadtnachacht im Interview mit Prof. Dr. Joachim Schlör
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SNA: Assoziieren Sie den Begriff Nachtleben eher mit Kultur oder mit Ökonomie?
Schlör: Beide Aspekte sind präsent und schwer – immer schwerer wohl – voneinander zu trennen. Ökonomische Erwägungen bestimmen weite Teile des kulturellen Angebots. Dennoch bleibt es für mich beim Vorrang der Kultur, wenn wir sie nicht nur als Dekoration und Schaustück, sondern als gelebte Praxis, als Prozess von Neugier und Erfahrung verstehen.
SNA: Die Attraktivität des Nachtlebens einer Großstadt wird oft als Urbanitätsfaktor schlechthin angesehen. Welche räumliche Dimension hat der Begriff Nachtleben für Sie?
Schlör: Immer noch zuerst: die Straße. Eine nächtliche Straße entlang zu gehen, vorzugsweise allein und mit den Massen im Blick, und neugierig auf die nächste Ecke – „au coin de la rue, l’aventure“ -, bleibt eines der sinnlichsten Vergnügen, das die Moderne zu bieten hat. Je mehr sich (organisierte) Festkultur in den Zentren festsetzt, je mehr greifen die Spazierenden in die Randgebiete aus, entdecken Neues (und ziehen allerdings auch den Tourismus nach sich).
SNA: Welche Rolle spielen konkret Stadtplanung und Stadtentwicklung(-spolitik) im Themenfeld Stadt, Nachtleben und Nachtökonomie für Sie?
Schlör: Da muss ich die Antwort zweiteilen: In Berlin ist es eine von der Politik geduldete Gentrifizierung (einschliesslich Mieterhöhungen und Vertreibungsprozessen), die mich mit betrifft, weil sie meine Nachbarschaft am Mehringdamm verändert; in Southampton und anderen englischen Städten beunruhigt mich die Vernachlässigung des öffentlichen Raumes, nicht erst seit der Wirtschaftskrise, die leerstehenden Läden, die Jugendlichen, die zwar spüren, dass sie gerne nachts etwas unternehmen würden, denen aber außer besoffen herumzustehen wenig einfällt.
SNA:Welches sind vor Ihrem disziplinären Hintergrund die interessantesten Fragestellungen und Themen im Zusammenhang mit Stadt und Nachtleben?
Schlör: Beruflich habe ich weder vorder- noch hintergründig viel mit dem Nachtleben zu tun. Den Kulturwissenschaftler interessiert „Nachtleben“ als kulturelle Praxis, daraus ergeben sich Fragen nach der Erhaltung oder sogar Bereitstellung von Freiräumen und Zugangsmöglichkeiten (für alle Geschlechter, Ethnien, soziale Gruppen, ohne Diskriminierung) – hier kann die Politik Rahmenbedingungen schaffen, ebenso kann sie im Bereich von Wirtschaftspolitik steuern (weniger Spielhallen zulassen zum Beispiel). Die Herstellung einer dem Nachtleben förderlichen Atmosphäre bleibt aber die Sache von uns allen.
SNA: Welche Akteure sind in diesem Zusammenhang für Ihre Arbeit besonders wichtig, wo gibt es bereits Kooperationen und welche müssten evtl. noch verstärkt/aufgebaut werden?
Schlör: Besonders erfreulich finde ich Einrichtungen, in denen ein interdisziplinärer Zugang zum Thema Stadt und zur Stadtforschung gesucht wird – beispielhaft nenne ich das Urban Laboratory am University College London, dessen Leiter Matthew Gandy kürzlich ein wunderbares Buch (Urban Constellations – Berlin: Jovis 2011) ediert hat, in dem der analytische Blick auf städtische Krisen mit Berichten über Stadtwanderungen und Forschungen über die Rolle von Kunst im Stadtraum verbunden wird.
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Prof. Dr. Joachim Schlör ist Kulturwissenschaftler und Autor des 1991 erschienenen Buchs Nachts in der großen Stadt – Paris, Berlin, London 1840-1930, welches sich mit der Genese und den Entwicklungslinien des modernen Nachtlebens aus kulturhistorischer Perspektive auseinandersetzt. Er ist Professor für Modern Jewish/non-Jewish Relations an der University of Southampton und beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit raumbezogenen Fragestellungen (Siedlungsformen, Migrationen, urbane Mentalitäten) im Kontext der Jüdischen Studien.